Unendliche Freiheit
Die Optimierung von Innen
(Eine Geschichte über unsere gegenwärtige Zukunft)
1.
Das Prospekt der NaNoBot Medical-Care & Self-Optimization Corp., kurz NBMC, versprach viel, und nebenbei gesagt: Es war spitzenmäßig aufgemacht. Ein Hochglanzprospekt, wie man es sich nicht besser vorstellen konnte. Auf der Titelseite lud einen das strahlende Lächeln eines menschlich aussehenden Androiden ein, sich die vielversprechenden Resultate der neuartigen NaNoBot-Technologie anzusehen. Die Ausdrucksweise, die Bildsprache – hinreißende Mitarbeitende in weißen Arztkitteln; ein glücklicher junger Mann, der auf einem Operationstisch saß, die Arme in die Luft gestreckt und aller Wahrscheinlichkeit nach gerade seine NaNoBots implantiert bekam; das freundliche, vertrauensvolle Ambiente, die netten Farben – all dies sprach für höchste Professionalität und noch viel mehr.
„Seien Sie der Mensch, der Sie sein wollen! Sprengen Sie die Ketten Ihrer Einschränkungen!“
stand in orangefarbenen Buchstaben groß auf der Vorderseite, und darunter:
„Die moderne NaNoBot-Technologie macht es möglich. Das Undenkbare ist Realität geworden. Vereinbaren Sie noch heute einen unverbindlichen Beratungstermin!“
Verdammt, wenn das keine Ansage ist! Ich bin ein kritischer Mensch. Aber auch ein Mensch mit Sehnsüchten.
Angucken kann man sich die Sache; kostet ja nichts. Wenn es mir nicht passt, gehe ich wieder. Und wenn es passt, dann wäre das ja eine feine Sache!
Zurzeit hört und liest man viel über diese wunderbaren NaNoBots. Offenbar gibt es nichts, was die nicht können. Auch in der Medizin werden diese Bots eingesetzt. Anfangs hat man sie entwickelt, um gefährliche Substanzen – radioaktive Stoffe zum Beispiel – in harmlose zu zerlegen.
Jetzt redet jeder über NaNoBots!
Obwohl ich Werbebotschaften für gewöhnlich in die Tonne klopfe, steckte ich das Prospekt in meine Jackentasche und stieg die Treppen nach oben.
„Seien Sie der Mensch, der Sie sein wollen, sprengen Sie die Ketten Ihrer Einschränkungen!“
Das klang toll, aber auch verwegen. Es machte mich neugierig. Schließlich gibt es in meinem Leben einiges, das ich ändern würde, wenn ich könnte. Ich legte das Prospekt auf den Küchentisch.
Es vergingen einige Tage, ehe ich auf das Angebot zurückkam.
Ich rief die Hotline von NBMC an; dazu musste ich den QR-Code an das DiMuDe halten. Vor ein paar Jahren hießen diese Dinger noch Smartphones, jetzt sagt man Digital-Multi-Funktions-Device, kurz DiMuDe. Der Unterschied: Sie werden personalisiert verkauft und haben bereits alles darauf – von der ID über die Krankenversicherung bis hin zu Bankkarten, Führerschein, einfach alles. Wenn man so ein Ding verliert, ist man angeschmiert. Es ist meldepflichtig. Man muss ein Bußgeld zahlen und erhält umgehend ein neues. Es besteht die Pflicht, eines bei sich zu tragen.
Nicht lange und die freundliche KI war zu hören. Ich vereinbarte einen unverbindlichen Beratungstermin.
Genau genommen sind diese Bots kleine, fremde Maschinen im Körper. Maschinen, die Dinge tun, die man nicht wirklich versteht, die man hoffentlich aber unter Kontrolle hat. Dennoch war mein Interesse geweckt, und eine Beratung ist ja kein Vertrag.
Allerdings fragte ich mich, was man tut, wenn man allergisch gegen die Technologie ist. Bekommt man dann einen Ausschlag, und wenn ja: Kann man sie aus dem Körper entfernen?
Sei’s drum, der Termin steht. Übermorgen bin ich schlauer!
2.
Am Tag des Termins saß ich nervös am Frühstückstisch und schaute mir Infos über NBMC an – wo das Unternehmen ansässig ist und was es sonst noch zu lesen gab.
Auf der Seite von NBMC war nichts zu finden, was man hätte beanstanden können. Alles transparent und freundlich, mit lustigen Animationen. Bei diesen NaNoBots handelt es sich laut NBMC um eine Kreuzung aus biologisch-genetisch gezüchteten Einheiten und einer implantierten, programmierbaren Struktur, die den biologischen Teil steuert. Kleine Cyborgs also. Die Cyborgs werden über eine spezielle Sonde direkt in das zentrale Nervensystem gepflanzt. Einmal im Gehirn, docken sie an die entsprechenden Nervensynapsen an und legen mit der Arbeit los. Diese Verhaltensprogramme werden über eine Software gesteuert. Will man NBMC Glauben schenken, dann ist der Eingriff Routine und nebenwirkungsfrei. Das Forschungs- und Entwicklungsprogramm durchlief ein mehrjähriges, streng kontrolliertes Protokoll. Seit einem Jahr ist das Produkt auf dem Markt. Es gibt bereits Millionen begeisterter Kunden.
Etwas beruhigter trank ich meinen Kaffee. Wer weiß – vielleicht sitze ich, NaNoBots sei Dank, bald supercool an einer Bar, im schicken Anzug, Seidenkrawatte, mit einem Drink in der Hand und plaudere entspannt mit einer netten Frau.
Also machte ich mich auf den Weg zu NBMC.
3.
Am Eingang zur U-Bahn-Station hielt ich das DiMuDe an den Scanner. Die KI informierte mich über meinen Kontostand.
„Sie haben noch 43 Digiminbis. Bitte laden Sie Ihr Konto auf! Beachten Sie die entstehenden Unannehmlichkeiten. Danke für Ihre Kooperation!“
Digiminbi ist die digitale Währung, die nach dem großen Finanzcrash vor fünf Jahren eingeführt wurde. Die Zentrale der Währung ist in Shanghai.
Bestimmte Dinge, die man kaufen möchte, sind mit Auflagen verbunden. Man kann zum Beispiel nur mit einem positiven Gesundheitspass ein Hotelzimmer buchen und einchecken.
Allerdings hat sich dadurch auch ein ziemlicher Schwarzmarkt entwickelt. Das beste Zahlungsmittel des Schwarzmarktes sind kleine Zinnsoldaten. Mit Zinnsoldaten bekommt man alles. Für zehn Zinnsoldaten zum Beispiel einen Akkubohrer. Werkzeug ist teuer und schwierig zu bekommen. Unser Regierungssystem hat einen Horror vor Werkzeugen. Die Leute sollen am besten nichts tun außer vor Bildschirmen sitzen.
Ich wischte zur Bestätigung des Scanners über den Touchscreen und steckte das DiMuDe in die Hosentasche.
Auf dem Weg zu NBMC begegneten mir die typischen Werbe- und Nachrichtenbildschirme. Diese Schirme sind alle paar Meter, sowohl in den U-Bahnen als auch an den Haltestellen, in die jeweilige Architektur integriert. Auf einigen der Bildschirme liefen Werbespots für NaNoBots. Einer der Spots zeigte einen verstörten Mann in einem Großraumbüro: peinlich gekleidet, langweilige Frisur. Eine Büroangestellte macht sich mit einer anderen hinter vorgehaltener Hand über ihn lustig. Schnitt. Ein Chef verweigert ihm die Gehaltserhöhung. Schnitt. Er stolpert über seine eigenen Füße in einen überfüllten Fahrstuhl. Schnitt. Lautes Lachen. Schnitt. Der geborene Verlierer. Schnitt. Eine coole Computeranimation der NaNoBots, wie sie im Gehirn eines Menschen an Synapsen andocken. Schnitt. Das „Super-Cool-Programm“ wird gestartet. Elektronische Schaltkreise blitzen, funkeln und blinken. Schnitt.
„Seien Sie der Mensch, der Sie sein wollen! NaNoBots machen es möglich!“ Schnitt. Derselbe Mann, jetzt aber geschmackvoll gekleidet. Er lehnt lässig an einem Designer-Schreibtisch. Um ihn herum zwei große, kräftige, gut aussehende Männer. Schnitt. Der smarte Typ steigt locker-flockig in ein teures Elektroauto. Schnitt. Das Auto fährt in den Sonnenuntergang. Schnitt.
„Seien Sie der Mensch, der Sie sein wollen! NaNoBots machen es möglich! Vertrauen Sie NBMC! Vertrauen Sie dem Leben!“
Eine Frau, die mir in der U-Bahn gegenüber saß, blickte abwesend auf den Bildschirm. Dann drehte sie sich abrupt zu mir um, starrte mich mit einem beunruhigenden Gesichtsausdruck an, gestikulierte mit den Händen und sagte in beängstigendem Tonfall:
„In aller Welt, in vielen Ländern. Nur das Beste jeden Morgen. Sonnenschein auf Ihrem Tisch. Heillocks Frühstücksflocken – und der Tag kann kommen, kann kommen, kann kommen, kann kommen!“
Dann sah sie wieder auf den Bildschirm. Die anderen Leute schienen nichts davon mitbekommen zu haben. Verwirrt stieg ich aus der U-Bahn und wartete auf die nächste.
4.
Bis zu NBMC war es noch ein Stück zu Fuß. Der Weg führte durch einen Park. Zwei Krähen saßen auf einem Ast und pickten auf etwas herum. Irgendwann kam das moderne Gebäude von NBMC in Sicht.
Diese Frau eben in der U-Bahn – was war nur in sie gefahren? Als hätte eine unsichtbare Hand in ihrem Kopf gesteckt und sie wie eine Handpuppe sprechen lassen.
5.
Schließlich stand ich vor dem Haupteingang von NBMC. Ich entdeckte eine Kamera, die mich erfasst hatte. Auf einem Bildschirm erschien ein grünes Symbol, und eine nette KI sagte, ich solle das DiMuDe an den Scanner halten. Die Glastür schob sich zur Seite. Ich stand in einem hohen Eingangsbereich aus Beton, Marmor und Glas. Aus einer Öffnung in der Mitte des Bodens tauchte eine schwarze, glänzende Kugel auf – eine Art schwebender Roboter. Ein Bildschirm auf der Kugel generierte ein freundliches Gesicht. Als die Kugel auf meiner Augenhöhe zum Stehen kam, fing das schwebende Ding an, eine Melodie zu pfeifen – womöglich, um mich aufzuheitern. Dann sagte sie:
„Einen wunderschönen guten Tag, Martin! Wir freuen uns, dich bei NBMC begrüßen zu dürfen! Ich bin Josephin, dein persönlicher Support, und werde dich auf deinem Weg zu deinen NaNoBots begleiten. Folge mir!“
Die schwarze Kugel war offensichtlich das Einzige, was sich bewegen und sprechen konnte. Menschen gab es keine. An zwei Wänden flimmerten Bildschirme, und am anderen Ende des Raumes plätscherte ein Wasserfall aus der Wand in ein gläsernes Goldfischbecken. Ich folgte der Kugel.
„Schön, dass du den Weg zu NBMC gefunden hast. Nach einem kurzen Test und einem formalen Beratungsgespräch mit einem unserer Registrare wirst du deine personalisierten NaNoBots in der medizinischen Einheit implementiert bekommen.“
„Oh, vielen Dank, aber ich wollte erstmal ein unverbindliches Beratungsgespräch!“, sagte ich, während ich hinter der Kugel herlief.
„Schön, dass du den Weg zu NBMC gefunden hast!“, wiederholte die Kugel.
„Folge mir in die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, erlebe die Wunder der NaNoBot-Technologie!“ Das digitale Gesicht verwandelte sich in einen Smiley, dann sagte es: „Bitte gehe in den Raum 42 und setze dich auf den Stuhl, danke!“
„Also, wie gesagt, äh, ich wollte eigentlich nur …“
„Schön, dass du den Weg zu NBMC gefunden hast!“, unterbrach mich die Kugel und verschwand.
6.
Ich ging in den Raum 42 und setzte mich auf den Stuhl, der vor einem Tisch stand. Der Tisch bestand aus dem Bildschirm und zwei Edelstahlbögen, die den Bildschirm horizontal hielten. Auf dem Bildschirm tauchte der Kopf eines Mannes auf. Er begrüßte mich mit einem breiten Lächeln.
Ansonsten: nirgendwo eine Menschenseele.
„Hallo Martin, ich begrüße dich bei NBMC. Bevor wir mit deiner Personalisierung beginnen können, beantworte bitte so genau wie möglich folgende Fragen!“ Ich schaute mich verwundert nach einem echten Ansprechpartner um. Aber bis auf den flimmernden Männerkopf auf dem Bildschirm war nichts zu sehen.
„Also, ich will eigentlich keine NaNoBots, auch keine Fragen wegen der Personalisierung. Ich will nur mal das unverbindliche Beratungsgespräch! Ist hier jemand?“ Keine Antwort! Ich entdeckte ein Gemälde an einer der Wände, auf dem sich zwei Sumoringer vor einer untergehenden Sonne grimmige Gesichter zuwarfen.
Der Männerkopf auf dem Bildschirm lächelte:
„Unsere Kundinnen und Kunden werden individuell an die Welt der NaNoBots herangeführt. Du beginnst das Abenteuer von Übermorgen. NaNoBots verwirklichen deine Träume. NaNoBots schenken dir deine Zukunft. Beantworte einfach die Fragen, und wir können mit der Personalisierung beginnen!“
„Äh, nochmal: Ich will keine Personalisierung, auch keine Fragen. Ich möchte nur wissen, was genau diese NaNoBots machen und ob das gesundheitliche Probleme geben könnte. Die Vor- und Nachteile – verstehen Sie? Versteht mich hier jemand? Hallo?“ Keine Antwort, nur das dumpfe Echo meiner Stimme.
„Unsere Kundinnen und Kunden werden individuell an die Welt der NaNoBots herangeführt. Du beginnst das Abenteuer von Übermorgen. NaNoBots verwirklichen deine Träume. NaNoBots schenken dir deine Zukunft. Beantworte einfach die Fragen, und wir können mit deiner Personalisierung beginnen!“
Das Gesicht auf dem Bildschirm nickte, lächelte und schaute mich erwartungsvoll an.
Mir blieb nichts anderes übrig: Ich überflog die Fragen auf dem Touchscreen, hinter denen Kästchen zum Ankreuzen waren – ein blaues für „Ja“, ein rotes für „Nein“. Manche Fragen boten eine Auswahl an Antworten.
7.
Die Fragen zielten darauf ab, mein Verhalten in speziellen Situationen genauer zu beleuchten. Es ging um Vorlieben, Sorgen, Ängste, Wünsche. Einige Fragen waren banal, andere persönlich. Zum Beispiel wollte man wissen, was ich tun würde, hätte ich die Wahl: A) mit dem Zug fahren, B) zu Fuß gehen oder C) mit einem Zeppelin fliegen?
Die persönlicheren Fragen zielten auf meine sexuellen Vorlieben ab oder auf moralische Maßstäbe. Ob ich zum Beispiel ein verletztes Tier, das ich an einem Waldweg entdecke, A) von seinem Leid befreie und es töte, B) mit nach Hause nehme, um es zu pflegen, C) einfach weitergehe oder D) es quäle? Und man schien sich dafür zu interessieren, ob ich Gedanken habe, vor denen ich zurückschrecke; ob ich schon einmal den Wunsch verspürte, einem schwächeren Organismus Schmerzen zuzufügen, oder Spaß an so etwas hätte.
Nachdem ich mich eine gefühlte Stunde durch die Fragen hindurchgetippt hatte, tauchte die sprechende Kugel wieder auf. Sie sagte, es gebe noch eine Formalität, die meine Unterschrift benötige.
Ich hatte es aufgegeben, der Kugel zu erklären, dass ich nur ein unverbindliches Informationsgespräch wollte. Wieder folgte ich ihr.
Es dauerte eine Weile, bis wir dort ankamen: eine Treppe nach unten und einen Korridor entlang.
Während wir den Korridor entlanggingen, fing die Kugel an zu summen und erzählte dabei eine verrückte Geschichte – wobei sie vor jedem Satz eine Zahlenreihe in einer anderen Tonlage herunterrasselte. Mit jeder Zahlenreihe und Sequenz wurde ich schläfriger. Irgendwann lief ich hinter ihr her, als würde ich schlafwandeln.
Sie redete von einem Krokodil auf einem Einrad. Dann sagte die Kugel: „5.9.42.23.9.23.“ Dann sprach sie darüber, wie das Krokodil in einem Kinderzimmer auf seinem Einrad im Kreis fuhr. Wieder: „5.9.42.23.9.23.“ Dann, dass Kinder an einem Fenster standen und dem Krokodil dabei zusahen, wie es im Kreis fuhr. Wieder: „5.9.42.23.9.23.“ Dann, dass die Kinder beim Anblick des kreiselnden Krokodils müde wurden. Wieder die Zahlen. Dem folgte, dass das Krokodil die Träume der Kinder aufsaugte. „5.9.42.23.9.23.“ Das Krokodil fuhr schneller und schneller. „5.9.42.23.9.23.“ Die Kinder lagen bewusstlos vor dem Fenster. „5.9.42.23.9.23.“ Das Krokodil öffnete den Schrank und stellte das Einrad hinein. „5.9.42.23.9.23.“ Das Krokodil erzählte die Geschichte der Träume. „5.9.42.23.9.23.“ Es erzählte, dass es von den Träumen der Kinder lebt. „5.9.42.23.9.23.“ Erwachsene können das Krokodil nicht sehen. „5.9.42.23.9.23.“ Das Krokodil legte sich unter das Kinderbett zum Schlafen. „5.9.42.23.9.23.“ Die Kinder träumen, das Krokodil schläft.
8.
Dann stand ich durcheinander und benommen vor einer weiteren Glasschiebetür. Ich wurde aufgefordert, das DiMuDe an den Scanner zu halten. Ich machte, was verlangt wurde. Die Glastür öffnete sich, und die Kugel verschwand. Ich fühlte mich müde, hätte mich auf der Stelle hinlegen können. Dieses Krokodil eierte immer noch in meinem Kopf herum.
Ein junger, schlanker, blass aussehender Mann mit Hemd, Jeans, rasiertem Kopf und Brille saß hinter einem Designerschreibtisch und fokussierte seinen Flachbildschirm. Der erste echte Mensch, den ich hier zu Gesicht bekam. Als er mich registrierte, winkte er mich zu sich und bat mich, Platz zu nehmen. Ich wollte etwas sagen, aber er sah so konzentriert aus, dass ich es bleiben ließ.
„Hallo Martin, schön, dass du hier bist. Ich heiße Joshua und bin dein persönlicher Registrar. Möchtest du etwas trinken – einen Saft, Wasser, Tee oder einen Kaffee?“
„Also, gegen einen Saft hätte ich nichts einzuwenden, und eigentlich wollte ich nur ein unverbindliches Beratungsgespräch, wie es auf dem Prospekt stand!“
„Eines nach dem andern, Martin!“, sagte er in das Mikro seines Headsets. „Bitte einen …“ – er schielte zu mir – „Orange, Birne, Maracuja, Multivitamin, Apfel?“
„Bitte einen Orangensaft!“
„Einen Orangensaft!“ Dann drehte er sich samt Stuhl.
„Ich komme gleich auf den Punkt – schließlich willst du was für deine Investition haben, oder nicht? Was wir dir anbieten, ist gelinde gesagt eine Revolution!“
„Wie schon gesagt: Ich wollte nur mal ein paar Informationen!“, sagte ich gelangweilt.
„Verstehen wir, verstehen wir, Martin – aber lass mich dir das Angebot zeigen. Du willst die NaNoBots, du hast dich schon entschieden! Du weißt es nur noch nicht!“ Dann lachte er. Wobei sein Lachen nicht lustig klang.
„Ich bin mir nicht sicher“, versuchte ich klarzustellen. Aber alles, was ich sagte, schien an ihm abzuperlen. Er war gegen meine Einwände imprägniert.
„Martin, wir verstehen ja deine Unsicherheit! Lass mich dir sagen: alles ganz normal. Jeder hat Angst vor dem Neuen! Aber ich versichere dir: Jede und jeder, der hier saß und das Gleiche sagte, war am Ende sowas von happy. Happy dank NaNoBot!“
„Allerdings gibt es noch eine kleine Formalität, dann kann es losgehen. Danach übergeben wir dich unserer klinischen Einheit. Also, Martin, was haben wir da … Hurra! Hurra! Deinen finanziellen Angaben zufolge qualifizierst du dich für das NaNoBots-Sorglos-Paket inklusive monatlicher Upgrades und Langzeitsynchronisation – was gibt es Besseres? Wie du siehst, haben wir für alles eine Lösung! Nur noch eine kleine Unterschrift hier, dann kann es losgehen, dann kommt das Krokodil und macht schnapp! Hahaha.“
„Wie gesagt, ich bin mir nicht so sicher. Was ist mit Risiken, Nebenwirkungen? Ich habe gehört, dass Leute Probleme bekamen?“
„Martin, wir reden da über alte Geschichten. Die neue Generation NaNoBots passt sich optimal jedem Organismus an. Es gibt eigentlich keine Probleme mehr, keine Überreaktionen, nichts. Mach dir keine Sorgen – wir arbeiten hier auf dem höchsten wissenschaftlichen Niveau. Also dann: Auf geht’s.“ Er klatschte in die Hände. „Dann noch die Unterschrift für das Sorglospaket – bitte über dem Strich!“ Er tippte auf das Tablet, das er mir entgegenhielt, und reichte mir seinen Digi-Pen.
Auf einem Roboterwägelchen kam der Saft angefahren und blieb neben mir stehen. Eine summende KI sagte: „Bitte, Martin – dein Orangensaft. Lass ihn dir schmecken!“
Ich nahm das Glas und nippte. Das Wägelchen sagte: „… gerne!“ und rollte langsam zurück. Der Saft schmeckte ein bisschen bitter, wahrscheinlich nicht die besten Orangen. Ich stellte ihn auf den Tisch.
Joshua warf mir einen ernsten Blick zu.
„Martin, wir wissen doch, was du willst. Du möchtest raus aus dem Hamsterrad, willst leben, genießen, feiern, deinen Spaß haben! Du hast es dir verdient, und wir können dabei helfen. Du musst nur hier unterschreiben. Reine Formalität. Das medizinische Team steht in den Startlöchern!“
Plötzlich fühlte ich mich müde, unbehaglich, bekam leichte Kopfschmerzen. Ich überflog den Vertrag. An einer Stelle stand, dass dieses Sorglospaket die Transmittierung von Werbespots beinhalte. „Transmittierung von Werbespots“? Wie soll das gehen? Was hat das mit NaNoBots zu tun? Was ist das?
Ich fragte: „Was ist diese Transmittierung?“ – ich zeigte mit dem Digi-Pen auf die Stelle im Vertrag.
Meine Zunge wurde schwerer. Ich riss mich zusammen. Mir fielen fast die Augen zu. Dieser Joshua wurde unscharf und fing an zu flimmern. Was war los? Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Und was hatte es mit diesem Krokodil auf sich? Offenbar war es das Logo des Konzerns. Man fand es hier quasi überall.
„Martin, halte dich nicht an Einzelheiten auf, verliere nicht das große Ganze aus den Augen!“ Er riss mir den Digi-Pen aus der Hand und deutete auf den Bildschirm in der Wand.
Ein Ultra-5K-HD-Film begann, seine scharfen Bilder in den Raum zu flimmern.
„Moment, was ist diese Transmittierung?“, lallte ich.
„Martin, genieß die Bilder …!“ Wieder das Logo mit dem Krokodil.
„Das ist hier aber alles doch nicht so spitzenmäßig!“, versuchte ich zu sagen.
„Warte, bis du es mit deinen eigenen Augen gesehen hast. Bilder lügen nicht!“
Joshua strich mit seinem Finger über den Touchscreen. Auf dem Bildschirm drehte sich das Krokodil auf einem Einrad.
Das Logo verschwand, dafür wurde minimalistische Musik lauter. Dann: „NaNoBots – deine Zukunft! Dein Leben! Dein Erfolg!“
Ein Mann und eine Frau in Arztkitteln, cool an einen OP-Tisch gelehnt, mit strahlendem Gesichtsausdruck. Schnitt.
Derselbe Mann, dieselbe Frau plötzlich in Jeans, T-Shirt, Turnschuhen und Kapuzenpullis. Lässig, jugendlich, dynamisch.
„Schön, dass du bei uns angekommen bist. Wir von NBMC nehmen deine Wünsche ernst. Und zum ersten Mal in der Geschichte werden wir das Versprechen deiner Freiheit einlösen! Wir machen Wunder zum Alltag! NaNoBots zeigen dir den Weg zu deiner Wahrheit!“ Schnitt.
Ein unglücklicher Mann in einer U-Bahn. Jugendliche in Trainingsanzügen und Basecaps rempeln ihn an. Der Mann – eingeschüchtert, stumm – macht nichts. Eine Frau wendet sich ab. Schnitt. Mann mit T-Shirt, Turnschuhen und Kapuzenpulli kommt ins Bild. Die U-Bahn-Situation mit dem Angsthasen friert ein.
„Sieht so ein freier, selbstbestimmter Mensch aus? Sicher nicht!“
Schnitt: Mann im weißen Hemd, Seidenkrawatte, Stoffhose – stolz auf dem Gipfel eines Berges; aufrecht blickt er in die aufgehende Sonne. Sein Gesicht ist so glatt wie der Hintern eines Pavians. Es riecht nach Erfolg und Gewinn.
Schnitt: die Frau im T-Shirt, Turnschuhen und Kapuzenpulli:
„Sei zur Abwechslung der Andere. Sag, wo es langgeht, sei der Bestimmer. NaNoBots machen Schluss mit dem Versager in dir. Unsere Bilder lügen nie!“
Schnitt. OP-Saal. Eine Computeranimation der NaNoBots. Die NaNoBots erinnern an Viren, die metallisch glänzen und sich im Organismus umherbewegen. Medizinische Geräte werden mit einem Kopf verbunden. Saubere High-Tech-Wissenschaft. NaNoBots im Gehirn einer Person, von außen über ein digitales Device gesteuert. Der Mensch, der gerade seine NaNoBots implantiert bekam, wird von den medizinischen Geräten abgestöpselt. Er steht auf und macht aus dem Stand einen Rückwärtssalto; strahlt: „Ich bin frei und kann alles tun, was ich will – dank NaNoBots!“ Triumphierend steht er neben einem NBMC-Mitarbeiter.
Die Hand des NBMC-Mitarbeiters legt sich auf seine Schulter. „Das kann zur Gewohnheit werden! Hahaha.“ Schnitt.
Der Film des Angsthasen in der U-Bahn wird per Zeitraffer an den Anfang zurückgesetzt. Das NaNoBot-Programm für optimales Verhalten wird gestartet.
Die 3D-Animation zeigt, wie NaNoBots im Gehirn an Nervensynapsen andocken. Stromflüsse, Blitze, energetische Phänomene durchzucken den Körper.
Schnitt: Das Gesicht des Angsthasen in der U-Bahn strafft sich; Mut und Überlegenheit schießen aus allen Poren. Er steht auf, geht auf die pöbelnden Jungs zu. Selbstsicher stellt er sich vor den Anführer, klopft ihm auf die Schulter, macht einen coolen Spruch, einen Scherz. Kompetent und schlau wickelt er die Jungs um den Finger. Er hat die Situation im Griff. Die Leute in der U-Bahn gucken bewundernd. Eine Frau lächelt.
Schnitt: Das Logo von NBMC und eine Stimme, die sagt: „Tu, was du willst – dank NaNoBots. NBMC öffnet dir den Weg in die schönste aller Welten!“
9.
Schweigen. Räuspern. Joshua drehte sein blasses Gesicht zu mir. Kein erfreulicher Gesichtsausdruck – ganz im Gegenteil. Es machte den Eindruck, als stünden die Dinge doch nicht zum Besten. Ernst studierte er den Bildschirm.
„Wir kennen dich, Martin – besser, als du dich selbst kennst! Deine Sehnsüchte, deine Ängste. Wir wissen, wovor du wegrennst. Und was deine Karriere betrifft: Da trittst du seit Jahren auf der Stelle. Deine wenigen Bekanntschaften sind alles Leute mit dem gleichen Profil. Und, Martin, glaub mir: Deine Chance, aus dem Hamsterrad rauszukommen, ist null! Du willst doch raus, Martin, oder? Also sei ein braver Junge und unterschreibe – dann kann deine Reise beginnen!“
Langsam wurde mir das zu bedrohlich, mein Unbehagen kippte in Panik.
„Ich werde mir das alles noch mal überlegen und dann gegebenenfalls auf Sie zurückkommen, versprochen!“, sagte ich mit letzter Kraft und wollte aufstehen – konnte es aber nicht.
Joshua drehte sich auf seinem ergonomisch und physiologisch ausgetüftelten Drehstuhl. Dann hob er die Hand und machte eine Geste, die ich so interpretierte, dass ich sitzen bleiben soll.
„Sagen wir es mal so, Martin: Wir pflegen zwar generell einen freundlichen, zuvorkommenden Umgang mit unseren Wirten – äh, Kunden – und selbstverständlich ist der Wirt, äh, Kunde König. Aber leider muss ich gestehen, dass mir ab einem bestimmten Punkt die Hände gebunden sind. Ich habe keine andere Wahl, als … nun ja: Du wirst das Gebäude mit NaNoBots verlassen – ob dir das passt oder nicht! Ich meine, was sollen wir noch tun? Objektiv gesehen, gibt es keinen Grund, Nein zu sagen, und du zögerst und redest und redest. Das ist nicht rational, Martin! Und da wir eine rationale Unternehmenspolitik verfolgen, werden wir unter gegebenen Umständen auch entsprechend handeln.“ Er schnippte mit den Fingern. Zwei entschlossene Männer in weißen Overalls, Mundschutz und Gummihandschuhen betraten den Raum. Einer hatte eine Injektionspistole in der Hand.
Mir wurde mulmig zumute. Die meinten es ernst.
„Oh, okay, okay – ich habe verstanden. Wahrscheinlich habt ihr auch recht. Ich bin ein Angsthase, war schon immer mein Problem. Wahrscheinlich sollte ich das Angebot annehmen. Aber könnte ich vorher noch zur Toilette? Diese ganze Aufregung, diese vielen revolutionären Dinge … ich fühle mich nicht so gut und würde mich gern etwas frisch machen!“
10.
Joshua gab den beiden Männern ein Zeichen.
„Das klingt doch nach einem superguten Plan!“
Ich versuchte, locker zu bleiben, und stand – obwohl mir schwindlig war – auf. Weißer Overall Nr. 1 ging voraus. Nr. 2, mit der Injektionspistole, warf mir einen mitleidigen Blick hinterher. Plötzlich tauchte die sprechende, schwarze Kugel wieder auf. „Ich übernehme!“, sagte sie. Nr. 1 gehorchte, blieb stehen, als hätte jemand den Stecker gezogen.
Wieder gingen wir den Korridor entlang. Ich folgte der Kugel. Und wieder begann sie mit ihrer verrückten Geschichte – nur dieses Mal in einem viel ernsteren Tonfall. Jedes Wort brummte im Inneren meines Schädels. Und als sie die Zahlenreihe „5.9.42.23.9.23“ sagte, blitzte es vor meinen Augen. Meine Knie wurden weich, meine Augen schwer, und irgendwie drehte sich alles. Für einen kurzen Moment war alles schwarz; dann blitzte es wieder, und ich stand vor zwei Türen. Die Kugel war verschwunden, stattdessen stand Nr. 1, irgendwie verändert und grinsend, vor mir.
„Hier die Toiletten!“
Er zeigte auf eine der beiden Türen. Keine Klinken, nichts! Er wischte über eine Oberfläche, digitale Knöpfe tauchten auf, er drückte auf einen, es machte klack, und die Tür öffnete sich.
„Ich warte vor der Tür. Mach keinen Blödsinn – das Wunderland wartet auf dich, kleiner Mann!“
„Oh, sicher, ich kann es kaum erwarten!“, erwiderte ich und huschte in die Toilette. Komischerweise fühlte ich mich wieder wach und klar im Kopf. Der Schwindel war verschwunden. Ich war extrem nervös, aber sicher, hier einen Fluchtweg zu finden. In solchen Gebäuden gab es immer abgehängte Decken, über denen Schächte, Kabelkanäle etc. ins Freie führten. Aber ich fand nichts – nur zwei ungewöhnlich gestaltete Waschbecken und eine Designer-Toilette. Doch ich kenne Gebäude; ich wusste, wonach ich suchen musste. Die Wände waren komplett weiß und glatt, keine Blenden oder andere Einstiegsmöglichkeiten. Ich stieg auf die Klobrille. Direkt über mir war eine Platte, die zu etwas führen könnte; sie war verschraubt. Zum Glück hatte ich immer meinen Leatherman in der Hosentasche. Ich musste mich beeilen. Die Schrauben waren schnell gelockert. Ich drückte die Platte nach oben, legte den Leatherman in den Schacht, dann zog ich mich an den Kanten hoch. Nichts wie weg hier!
Am Ende des Schachts konnte ich ein schwaches, gleißendes, fast schon flimmerndes Licht ausmachen. Merkwürdigerweise war rechter Hand an der Wand in regelmäßigen Abständen das Krokodil-auf-dem-Einrad-Logo gedruckt. Eine Art Markierung. Ich schenkte dem keine weitere Beachtung – schließlich war ich mit meiner Flucht beschäftigt. Ich kroch ein Stück und legte die Verblendung auf die Öffnung zurück. Ich versuchte, leise zu sein. Eine Tür war zu hören, dann eine Stimme; jemand telefonierte. Konzentriert kroch ich den Schacht entlang.
11.
Aufgeregt ging Joshua vor seinem großen Bildschirm auf und ab, kratzte sich am Hinterkopf, sprach mit der Person auf dem Bildschirm: ein Mann um die 60, groß, schlank, lange graue Haare zum Pferdeschwanz gebunden, im schwarzen Trainingsanzug mit hellblauen Streifen. Weißer Overall Nr. 2 stand neben Joshua, kaute Kaugummi.
Der Mann auf dem Bildschirm starrte in die Kamera:
„Was ist mit unserer ID, warum wurde sie dem medizinischen Team noch nicht übergeben? Die Implantation hätte vor einer Stunde abgeschlossen sein müssen. Wir haben einen strammen Terminplan und stehen unter Zeitdruck. Die Welt muss sich verändern!“, trällerte er lautstark, während er im Garten mit Orchideen und einer ziemlich großen Venusfliegenfalle beschäftigt war, die ihrer Größe wegen auch Venusrattenfalle hätte heißen können. Er besprühte sie mit Wasser, stellte die Sprühflasche auf den Glastisch, zündete sich einen Joint an, griff in einen Behälter, zog eine Ratte am Schwanz heraus, hielt sie der Pflanze an die empfindlichen Sensorhaare. Augenblicklich schnappte die Pflanze zu. Nur der Schwanz der Ratte zuckte noch eine Zeit lang zwischen ihren grünen Klauen.
Weißer Overall Nr. 1 betrat gehetzt den Raum. Joshua warf ihm einen ernsten Blick zu.
„Was ist los?“, fragte Joshua.
„Er ist weg!“
„Wie weg?“
„Na, weg. Ging zur Toilette, kam nicht mehr raus. Ich guckte – aber keiner mehr da!“
„Das ist irre. Keiner geht in einen Raum und ist weg; das gibt’s nicht!“, Joshua wurde nervös.
„Wenn ich’s doch sage – der Typ hat sich in Luft aufgelöst!“
„Du hast alles abgesucht? Vielleicht hat er sich in der Kloschüssel versteckt?“
„Nein, hat er nicht!“
„Unter dem Waschbecken?“
„Negativ!“
Joshua überlegte. „Wir müssen das Tracing-Programm starten. Verdammt – mit NaNoBots im Hirn könnten wir ihn sofort finden, lahmlegen und auflesen. Stattdessen müssen wir sein DiMuDe orten.“
„Geht klar, ich übergebe es der Tracing-Einheit!“
„Nein, das mache ich selbst. Geh zurück und such noch mal alles ab!“
„Wo denn?“
„Verdammt – tu es!“
„Okay!“ Overall Nr. 1 flitzte aus dem Raum.
Joshua drehte sich zum Bildschirm. Der Mann im Trainingsanzug lächelte: „Haben wir eine ID verloren?“
„Wir haben alles unter Kontrolle – kein ernsthaftes Problem!“ Joshua nahm einen tiefen Atemzug.
„Auf dich ist Verlass!“ Die Verbindung brach ab. Das Krokodil auf dem Einrad drehte sich vor schwarzem Hintergrund.
12.
Ich schaffte es tatsächlich über den Schacht hinaus. Zuletzt musste ich noch ein Gitter nach oben stemmen – ziemlich schwierig –, aber mit aller Kraft konnte ich es nach außen drücken. Am Ende, oh Wunder, stand ich in der Sonne – schmutzig und verstaubt zwar, aber frei. Schnell zog ich das DiMuDe aus der Hosentasche und warf es in den Schacht. Es zerdepperte am Boden und war hoffentlich kaputt. Das wird mich einiges kosten.
Ich hatte keinen Plan, wohin und was tun. Aber manchmal war es wichtiger, zu überleben – zu entkommen!
Das DiMuDe zu zerstören, war notwendig, da ich sicher war, dass NBMC mit jeder Überwachungseinheit zusammenarbeitet. Diese NaNoBots wären sicher eine Kontrolle von innen – durch eine Software von außen. Die Schnittstelle: das Gehirn. Man implementiert die Steuereinheit direkt in das zentrale Nervensystem. Was für ein teuflischer Plan. Mit NaNoBots hätte ich gar keine Chance zu entkommen. Mit einem DiMuDe hätten die mich in Sekunden auf ihrem Tracingschirm – aber das konnte man noch loswerden. NaNoBots nicht.
Ich war froh, dass ich um diese Chip-Implantations-Kampagne vor drei Jahren herumgekommen war. Dachte: „Musst ja nicht jeden Blödsinn mitmachen.“ Damals war das eine freiwillige Aktion gewesen. Ich erinnere mich noch gut an den bescheuerten Slogan: „Sei Teil der Community, sag Hallo zur Welt. Chippen ist cool, Chippen bringt uns zusammen!“ Immerhin konnte man 70 % der Leute mit der Kampagne den Tracking-Chip einpflanzen. Denn wer wollte nicht Teil einer Gemeinschaft sein, dazugehören, Freunde haben usw.?
Die psychische Not veranlasst einen, merkwürdige Dinge zu tun. Vielleicht war das Teil ihrer Strategie. Ich meine: Man muss nur dafür sorgen, dass genügend Leute in die soziale Verelendung geraten, sie isoliert halten – und ihnen dann die Lösung für ihre untragbare Situation anbieten. Erst steckt man dich in einen Käfig und verkauft dir dann den Schlüssel hinaus. Perfekte Geschäftsidee.
Nun stand ich in einem Hinterhof. Gehetzt schaute ich mich um. Die Sonne brannte mir auf den Schädel. Keine Wolke. Es führte nur ein Weg hinaus – und zwar an drei Typen in schwarzen Klamotten vorbei. Wahrscheinlich Sicherheitspersonal. Einen gefährlichen Eindruck machten die allerdings nicht. Ich machte einen Satz hinter den Container und klopfte mir den Staub von der Hose. Dann überlegte ich, wie ich am besten aus dieser Falle herauskäme. Ich entschied, abzuwarten. Das war alles sehr nervenaufreibend – aber wofür hatte man Nerven? Ich beobachtete die herumlungernden Männer. Die wiederum machten keine Anstalten, wegzugehen. Bis ein grauer Elektro-LKW der Stadtwerke anfuhr – vielleicht, um den Container zu holen, hinter dem ich stand. Ich untersuchte den Container, und ja: Stadtwerke. Schnell zog ich mich hoch und guckte, was drin war. Metallschrott. Also kletterte ich hinein und bedeckte mich mit einem Blechstück.
13.
Ich hätte auch einfach an den Typen vorbeigehen können – mit einer Selbstverständlichkeit, dass die nicht im Traum daran gedacht hätten, etwas sei verkehrt. Aber leider bin ich nicht so cool. Mit NaNoBots im Hirn wäre das vielleicht anders – mit dem Cool-sein-in-allen-Situationen-Programm. Das ist es doch, was einen dazu bringt, sich diese Dinger einpflanzen zu lassen: Man möchte ein Superstar sein. Der alte Hütchenspielertrick mit den eigenen Unzulänglichkeiten. Keiner will wahrhaben, dass es Leute gibt, die dafür bezahlt werden, auf diesen Knöpfen herumzuhämmern. Die wollen uns ja nur da haben, wo wir jetzt sind – in der Falle der Konzerne.
Der LKW kam summend näher, bis er am Container zum Stehen kam. Summende LKWs sind etwas Paradoxes. Eine Tür wurde geöffnet. Männer befestigten den Container an einer Kette und wechselten Worte. Der Container wurde schwankend auf die Ladefläche gehoben. Wieder Türen – und der LKW setzte sich mit mir im Container in Gang. Am Checkpoint blieb er stehen. Ich hörte, wie einer vom Sicherheitspersonal auf den Container stieg. Er rief dem anderen etwas zu. „Verdammte Scheiße!“, dachte ich. Zum Glück lag ich unter dem Blech. Der andere sagte: „Lass gut sein, ich will in die Pause!“
Erleichtert und hoffentlich bald außer Gefahr, lag ich schwitzend unter dem Blech. Aber war ich wirklich außer Gefahr? War es nicht vielmehr nur eine Frage der Zeit, ehe ich auf dem Radar einer der Überwachungseinheiten auftauchte – mit oder ohne DiMuDe? Früher oder später würden sie mich finden.
14.
Was die Gesellschaft anbetraf: Sie war an einem Punkt angekommen, an dem jeder in seiner eigenen halluzinierten Blase hing. Man hörte, sah und interessierte sich nicht für das, was vor sich ging. Allerdings halluzinierte keiner seine Hirngespinste selbst. Die Programme in den Köpfen wurden von der externen Sendeanstalt ausgestrahlt. Die Sendeanstalt besaß das Erziehungsmonopol. Die NaNoBot-Technologie sollte diese Entwicklung auf ein höheres Niveau bringen. Ich war zum Glück – zumindest für den Moment – dem Ganzen entwischt.
15.
Der Tag war sonnig, heiß und wolkenlos. Einige Flugzeuge durchkreuzten den Himmel und hinterließen die üblichen Streifen, die sich mit der Zeit verflüchtigten und eine milchige Dunstglocke hinterließen.
Der Elektro-LKW fuhr lange Zeit summend und mit gleicher Geschwindigkeit eine Landstraße entlang. Fuhr er zum nächstgelegenen Recyclinghof? Und wann war der richtige Zeitpunkt, um aus dem Container zu klettern? Erst mal musste ich herausfinden, wo ich war. Dazu kletterte ich an der Containerwand nach oben. Warmer Fahrtwind blies mir angenehm ins Gesicht. Als der LKW an einer Ampel zum Stehen kam, kletterte ich unbemerkt hinaus. Ich ging eine Weile auf einem Weg an der Straße entlang. Auch hier waren auf kleinen Schildern und sogar auf dem Boden immer wieder dieses Krokodil auf dem Einrad zu entdecken, sogar auf einem herumfliegenden Flyer. Außerdem versetzte mich ein Ortsschild, auf dem Cybernetics 3 km stand, in Erstaunen. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Ich versuchte, die Unlogik zu ignorieren, und genoss stattdessen das schöne Wetter.
Am Stadtrand begegnete ich Leuten, und eine mehrstöckige Wohnsiedlung kam in Sicht. Ein Zeppelin flog brummend über die Siedlung. Wenn man genau hinsah, konnte man auf dem Zeppelin ein Krokodil auf dem Einrad erkennen.
16.
Eine junge Frau, die mir entgegenkam, sah mich an, blieb stehen. Auch ein älterer Mann auf der anderen Straßenseite, ebenso ein kleines Mädchen am Zaun eines Spielplatzes. Als ob sie sich dazu verabredet hätten. Ich blieb ebenfalls stehen. Was soll das? Soll ich weglaufen? Stehen bleiben? In das Weizenfeld rennen? Aber ich war wie eingefroren. Aus heiterem Himmel fingen alle gleichzeitig an zu sprechen:
„Wenn das Krokodil auf dem Einrad fährt,
es schlecht um deine Zukunft steht!
NaNoBots sind keine Freunde,
sind keine Helfer,
verhelfen weder zur Wahrheit noch zur Weisheit!“
„Wenn das Krokodil auf dem Einrad fährt,
du in dein Verderben fährst!
NaNoBots sind keine Freunde –
sind keine Freuden!
Versprechen nur die Anerkennung,
nach der du dich verzehrst!“
„Wenn das Krokodil auf dem Einrad fährt,
dann ist es für dich zu spät!
Denn es hat dich umgemäht!“
Dann war der Spuk zu Ende. Sie gingen ihres Weges, als wäre nichts passiert. Ich musste eine Weile stehen bleiben, musste mich sammeln, es verdauen. Ich entschied, zurück in die unbewohnte Gegend zu gehen, dort eine Weile an einem Fluss zu sitzen, mich zu erholen, mich wiederzufinden. Vielleicht treffe ich Gleichgesinnte, denen es ähnlich erging.
Die Sonne schien grell. Ich musste blinzeln. Ich wollte so schnell wie möglich weg von hier. Aber ich konnte nicht, war festgewachsen. Stattdessen starrte ich in die gleißende Sonne. Die grelle Scheibe umgab ein fremdes Blitzen, eine befremdende Korona. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Dann erschien mitten darin das Krokodil auf dem Einrad. Ich wollte den Kopf schütteln, aber nichts bewegte sich. Der Boden wurde schwarz und das Licht ein kreischendes Weiß – so, als würde ich in Milch ertrinken.
Dann hörte ich eine Stimme, die sagte: „Er kommt zu sich, geben Sie ihm zwei ml Loparemin!“ – „Hallo, hörst du mich? Er hat es überstanden!“
Ich fühlte mich verwirrt. Was war passiert? Ich dachte, ich bin geflohen. Mein Körper fühlte sich pelzig an, und mein Mund war so ausgetrocknet, als hätte jemand eine Stunde hinein geföhnt. Meine Zunge lag wie ein Fremdkörper darin, und in meinem Kopf pochte es von innen.
Ein Mann mit Mundschutz und Kopfbedeckung erschien in meinem Blickfeld: „Du fühlst dich noch etwas schwach und wackelig. Wir haben dir etwas zur Stabilisierung gegeben. Es wird gleich besser. In zwei, drei Stunden bist du auf den Beinen. Bringt ihn ins Zimmer! Und startet das Programm. Zeigen wir ihm, was die Bots draufhaben!“
Was war passiert? Ich war doch in Sicherheit? Ich war doch auf dem Weg in die Freiheit? Ich wollte keine NaNoBots. Ich wollte sie nicht. Ich wollte nur weg! Nur weg!
Während ich an diesen Gedanken hing, geschah es: Ein überwältigendes Gefühl durchflutete meinen ganzen Körper – von jeder Haarspitze bis in die Füße und wieder zurück. Eine unbeschreibliche Woge der Euphorie waberte hin und her. Ich fühlte eine Freude, wie ich sie im Leben noch nie verspürt hatte. Die Farben im Raum wurden heller, mein Körper straffte sich. Ich war plötzlich so lebendig, so stark, so unglaublich gut gelaunt. Waren das diese NaNoBots?
17.
Die schwarze Kugel schwebte vor mir her. Kraftstrotzend, mühelos, federnd folgte ich ihr. „Heute ist dein großer Tag!“, sagte die Kugel. „Bitte gehe durch diese Tür. Es ist dein Auftritt!“
Genau genommen war es nicht meine Entscheidung, aber es fühlte sich alles so fantastisch, so perfekt an, dass es mir egal war.
Ich betrat den Raum und dachte: „Das Einzige, was jetzt zählt, ist der Moment!“ Hauptsache, das Gefühl hört niemals auf. Mein „altes Ich“ erhob zwar gewisse Einwände, aber sie verebbten – wie das Echo eines schreienden Menschen, der weit weg von jeglicher Zivilisation in einer Felsspalte steckt. Will sagen: Das alles spielte keine Rolle mehr.
Irgendwann stand ich auf einer Bühne und hörte ein tobendes Publikum. Allerdings sah ich kein Publikum, sondern nur Joshua, der neben einer Kamera stand, die auf Augenhöhe auf einem Stativ befestigt war. Das tobende Publikum war eine Aufzeichnung. Joshua drückte mir die Hand und überreichte mir das goldene NaNoBot-Zertifikat. Auf einem Bildschirm sah man einen live zugeschalteten NBMC-Mitarbeiter.
„Willkommen in deiner neuen Welt, Martin. Wir sind glücklich – und vor allem du bist glücklich –, endlich Teil der größten Bewegung unseres Zeitalters sein zu dürfen. Geh hinaus in die Welt und verbreite, wie supercool das Leben mit NaNoBots ist!“
Joshua nickte, heftete ein kleines Mikro an mein T-Shirt und gab mir zu verstehen, dass ich etwas sagen solle.
„Ich bin supergut drauf, und der NaNoBots wegen wird mich nichts mehr aus der Fassung bringen können!“, wollte ich sagen.
Aber es kam nur ein Satz aus meinem Mund:
„Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso!“
Ein medizinisch-technisches Team rückte an. Die Übertragung wurde sofort abgebrochen. Man versuchte alles Mögliche, aber offenbar ließen sich die NaNoBots in meinem Hirn nicht mehr davon abbringen, nur noch diesen einen Werbeslogan zu produzieren. Offenbar hatten sich die Bots aufgehängt und steckten in einer Routine fest. Da sie die Steuerung meines Sprachzentrums übernommen hatten, war es mir unmöglich – ganz egal, was ich dachte oder wollte –, etwas anderes zu sagen als:
„Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso!“
18.
NBMC zog Konsequenzen aus dem peinlichen Vorfall; ich bekam eine großzügige Entschädigung – allerdings mit der Einschränkung, dass ich von nun an in einer von der Außenwelt abgeschotteten, NBMC-gesponserten Einrichtung leben musste. Was nicht das Schlechteste war. Ich und 15 andere mit demselben Problem – offiziell hieß es the closed advertising loop syndrome – machten das Beste draus. Es ging uns ganz gut hier. Wir haben Free-TV, eine Hausbar, einen beheizten Swimmingpool, einen Billardtisch und bekommen jeden Tag drei warme Mahlzeiten. Bis auf den dummen Umstand, dass wir alle nur noch einen einzigen Werbeslogan sagen können, fühlen wir uns prächtig, sind immer guter Dinge und haben eine Menge Spaß zusammen. Was einer sagt, spielt keine Rolle mehr. Jessika zum Beispiel, die beim Essen neben mir sitzt, kann nur noch „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ sagen.
Ach ja: NBMC arbeitet daran, die implantierten NaNoBots mit Röntgenstrahlung zu neutralisieren. Aber bis jetzt hat es nicht funktioniert.
Ich mache NBMC keine Vorwürfe. Ich nehme es dem Konzern nicht übel, dass sie mich erst mit einer Droge im Orangensaft in einen psychedelischen Luzidtraum geschickt haben, um mir dann, entgegen meinem Willen, diese Bots einzupflanzen.
Steht doch am Ende alles zum Besten. Ich fühle mich immer spitzenmäßig, lebe mit tollen Leuten zusammen, wo es niemals irgendwelche Streitereien gibt darüber, was jemand gesagt oder nicht gesagt hat – schließlich sagen wir ohnehin alle nur noch das Gleiche. Insofern steht alles zum Besten!
Danke, NBMC, für die tollen Bots!